«Der Bund», 8. 3. 2019

Wo man bei Vorständen nur Bahnhof versteht

«Komisch» käme er sich vor, sagte mir einst ein seit Langem in der Schweiz arbeitender Kollege, wenn er «sich helvetisieren» müsste. Dabei hatte niemand von ihm verlangt, er müsse eine – wie auch immer definierte – Schweizer Wesensart annehmen. Es war nur darum gegangen, sich so an die hiesige Leserschaft zu wenden, dass er mühelos verstanden wird. Er hatte von «Vorständen» in Firmen geschrieben und nicht etwa Gremien gemeint, sondern Mitglieder derselben. Solche Vorstände bevölkern Deutschlands Teppichetagen und spielen neben der Rolle der Geschäftsleitung teilweise jene des Verwaltungsrats; der Aufsichtsrat schwebt darüber und tut, was sein Name besagt.

Es ging aber nicht um deutsche Firmen, sondern um angelsächsische, die indessen in einer Übersetzung aus Deutschland vorkamen. Ihre «directors» entsprechen ziemlich genau den deutschen Vorständen, und die Übersetzerin hatte den Bequemlichkeitsfehler «Direktoren» vermieden, der sonst häufig vorkommt. Dem Schweizer Publikum ohne Umschweife zu vermitteln, wie hoch oben dieses Führungspersonal angesiedelt ist, wird durch die Unterschiede im Aktienrecht erschwert. Im damaligen Zusammenhang wären «Verwaltungsräte» genügend genau gewesen – und mühelos als Individuen erkennbar, während ein Vorstand als Person vielen nur auf einem Bahnhof vertraut ist.

Das sprachliche Helvetisieren war auf Zeitungsredaktionen schon ein Problem, als dort und in den Korrektoraten noch selten Personal aus Deutschland arbeitete. Denn ohne Texte deutscher Agenturen und Korrespondenten wären jedenfalls die Auslandteile kaum gebührend zu bestücken gewesen. Man musste ja solche Berichte nicht in Gotthelfs Sprache übersetzen, aber für Deutschland (und evtl. Österreich) typische Ausdrücke gab man gern so wieder, dass sie in der Schweiz gut verstanden wurden und kein Befremden auslösten. Auch die Nachrichtenagentur SDA tat es und tut es wohl noch immer, soweit ihre ausgedünnten Kräfte reichen. Zeitungsredaktionen haben ebenfalls mehr als genug anderes zu tun, egal woher ihre Leute stammen. Manchen wird sogar «deutsches Deutsch» vorgeschrieben, etwa «das Viertel», auch wenn damit nicht ein Quartier gemeint ist.

So werden längst nicht mehr immer aus Bürgersteigen Trottoirs, aus Tarifpartnern Sozialpartner und aus Oberbürgermeistern Stadtpräsidenten. An Wörter aus dem allgemeinen Wortschatz wie eben «Bürgersteig» dürfte sich die Schweizer Leserschaft mit dem Konsum deutscher Medien gewöhnt haben. Wenn aber aus dem amtlichen Bereich bundesrepublikanische Begriffe auf die ganze Welt übertragen werden, ist das immer noch befremdlich. Wo der Oberbürgermeister diesen Titel trägt, soll er ihn auch in Schweizer Blättern behalten dürfen. Aber schon in Österreich ist er nur ein Bürgermeister; ferner im Benelux ein «bourgmestre», «burgemeester» oder «Buergermeeschter». Doch der Danziger «Oberbürgermeister», über dessen Ermordung mein Leibblatt berichtete, wäre in der wörtlichen Übersetzung «Stadtpräsident», also geradezu schweizerisch; «burmistrzy» gibt’s in Polen seit 1945 nicht mehr (danke, Wikipedia).

Ein deutscher Redakteur, der in der Schweiz als Redaktor einer Kirchenzeitung arbeitet, fragte mich, ob er das Eszett (ß) verwenden solle. Nein, antwortete ich ihm, gemäss dem englischen Sprichwort, wonach man sich in Rom wie die Römer verhalten solle. So viel Helvetisierung darf man erwarten, auch mit dem Wortschatz der Helvetismen, wie ihn die Dudenbände «Rechtschreibung» und «Schweizerhochdeutsch» enthalten. Letzterer erläutert zudem die hochdeutsche Aussprache, die in der Schweiz auch in gepflegter Form ihre Eigenheiten hat. Zwischen dieser Variante und der Kunstsprache Bühnendeutsch mag in Radio und Fernsehen hierzulande alles angehen, aber wenn jenseits der Theatersprache Akzente aus Deutschland überwiegen, wird’s problematisch, vor allem bei Schweizer Orts- und Familiennamen («Honehger aus Zührich»).

© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)