«Der Bund», 6. 2.  2015

Blick aufs Ganze statt auf den Röstigraben

«Dass wir uns verstehen müssen, ist ein rhetorisches Relikt aus der nationalen Mottenkiste.» Wenn jemand in der Debatte um den Fremdsprachenunterricht dieses Argument schwingt, muss er gute Gründe haben. Der Bündner Autor Romedi Arquint hat sie, denn er holt in seinem «Plädoyer für eine gelebte Mehrsprachigkeit» (NZZ Libro 2014) weit aus. Er kann dem französischen Bonmot «les Suisses s’entendent, mais ne se comprennent pas» durchaus positive Seiten abgewinnen: Am Beispiel des Parlaments zeigt er, dass das gute Einvernehmen auch mangelndem Sprachverständnis zu verdanken sei, denn nur eine einheitliche Sprache eigne sich für scharfe Debatten.

Das bedeutet nun nicht, dass man keine anderen Landessprachen lernen solle; Arquint mag sie nicht einmal «Fremdsprachen» nennen. Aber er findet beim Sprachenunterricht die Frage erlaubt, ob wegen der Berufsaussichten «die beim Englischen zu erreichenden Standards nicht höher anzusetzen sind als bei der zweiten Landessprache». Was ihn stört, ist die Festlegung der Landesteile auf eine jeweils einzige «eigene» Sprache. Als «Mythos» bezeichnet er die Ansicht, eine saubere Abgrenzung der Sprachgebiete sei eine Voraussetzung für den Sprachenfrieden; diesem Mythos entsprängen auch Urteile des Bundesgerichts zu Schulfragen an der Sprachengrenze.

Den Ursprung der territorialen Festlegung der Sprachen sieht Arquint im Nationalismus vor allem des 19. Jahrhunderts. In der Schweiz habe sich dieser, sprachlich gesehen, nicht national durchgesetzt, wohl aber kantonal und in mehrsprachigen Kantonen sogar kommunal. Die lokale Einsprachigkeit bedeutet für den Autor eine Abkehr von der individuellen Mehrsprachigkeit, die früher nicht nur in Adelshäusern, sondern auch im einfachen Volk weit verbreitet gewesen sei (was er vielleicht überschätzt). Um die Mehrsprachigkeit nicht als Staatsmaxime, sondern als persönliche Fähigkeit geht es ihm.

So soll sich, wer im «falschen» Sprachgebiet lebt, dort «ausreichend» verständigen können – aber auch sein «Recht auf Muttersprache» soll geschützt sein. Das kann zum Beispiel bedeuten, überall in der Schweiz eidgenössische Abstimmungsunterlagen in der eigenen Sprache zu erhalten und die Kinder in muttersprachliche Kurse schicken zu können (ähnlich wie die Lektionen in «heimatlicher Sprache und Kultur» für manche ausländischen Migranten). Ideal wären für Arquint mehrsprachige Schulen – nicht nur für Kinder anderer Muttersprache als jene der lokalen Mehrheit. Auch für Letztere wäre es ein Gewinn, mehrsprachig aufzuwachsen.

Einer (nur als Fremdsprache unterrichteten) Landessprache den Vorrang zu geben empfindet der Autor als «politisches Zugeständnis an eine nationale Symbolik». Er möchte vielmehr das Bildungswesen von der «Krankheit Einsprachigkeit» erlösen und die Sprachen aus der «babylonischen Gefangenschaft» in Territorien befreien. Am ehesten sieht er dieses Ziel schon in seiner engeren Heimat erreicht: «Der Rätoromane wird zu einem Vorreiter Europas, das auf Mehrsprachigkeit angewiesen ist.» Das Europa, das ihm vorschwebt, würde wieder ans vornationale Zeitalter anknüpfen.

So verlockend solche Ziele sind – wie kommt man ihnen näher, nur schon in der Schweiz? Neben der Mehrsprachigkeit in den Schulen möchte Arquint auch den Austausch fördern, nicht nur zwischen Schulen, sondern auch etwa in den Medien: Er hat «die Vision einer einheitlichen, in allen vier Landessprachen ausgestrahlten Tagesschau». Einst wurde die Tagesschau tatsächlich in drei Sprachen übersetzt, doch hat die Trennung sie wohl für alle Sprachregionen attraktiver gemacht. Für die Sprachendebatte wäre indessen schon viel gewonnen, wenn sie sich nicht am angeblichen Graben orientierte, sondern an einer Gesamtschau. Dieses Buch bietet eine eindrückliche.

© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)